vrijdag 20 september 2013

Stik oer Brahms yn Junge Freiheit (2 maaie 2008)

Der Rückschritt als Fortschritt: Betrachtungen zum 175. Geburtstag des altmeisterlichen Modernisten Johannes Brahms

"Das Grab ist meine Freude"

"Melancholie des Unvermögens" - so glaubte Nietzsche 1888 Brahms' Kunst charakterisieren zu müssen. Als Musikkritiker bekämpfte Hugo Wolf zur damaligen Zeit Brahms und verteidigte Bruckner - nicht etwa andersherum, wie es üblich war. Brahms' Zweite hält Wolf für mißraten und schildert den Komponisten als jemanden, "der lange abwesend war, zurückkehrt, mit vieler Mühe den verrosteten Schlüssel umdreht und die Spinnweben in seinem Bau erblickt".

Brahms' vier Symphonien waren für Wolf neben den "Cimborassos" Bruckners "bloße Maulwurfshügel". Und das, obwohl sich Brahms zu dieser Zeit bereits einen ersten Platz in der Musikgeschichte errungen hatte. Seine erste Symphonie von 1876 bezeichnete Hans von Bülow als "Zehnte Beethovens", und schon den ganz jungen Brahms apostrophierte Schumann, als "einen, der den höchsten Ausdruck der Zeit in idealer Weise auszusprechen berufen ist. Das ist der, der kommen mußte."

"Crucifige!" hier - "Halleluja!" dort: Durch die Zeiten war es immer nur eine starke, eine große Kunst, die so zu polarisieren versteht. Doch der Kunst des Johannes Brahms wohnt in der Tat sehr oft etwas Elegisches, etwas emotional Zurückgehaltenes inne, was Nietzsche zu jenem Wort veranlaßt haben mag. Jenes Verhalten-Knorrige, Asketisch-Protestantische in Charakter und Musik Brahms', das man früher immer auf die norddeutsche Stammesabkunft (Brahms wurde am 7. Mai 1833 in Hamburg geboren) des Komponisten zurückzuführen glaubte, kann im süddeutsch-österreichischem Raum für eine erfolgreiche Tätigkeit hinderlich sein.

Brahms ließ als Dirigent der Wiener Singakademie, seinen persönlichen Vorlieben folgend, den Schwerpunkt seiner Programme auf Bachsche Motetten bzw. auf solche von Heinrich Schütz auf alttestamentarische Texte legen, was einst jene Anekdote hervorbrachte, in der ein Kritiker behauptete, wenn Brahms guter Laune sei, lasse er den Choral "Das Grab ist meine Freude" singen.

Eine solche Charakterprägung läßt wenig politisch-gesellschaftliches Engagement zu. Brahms war bei aller demokratischen Grundposition ein unpolitischer Mensch, der nur einmal, in seinem (meist als Werk minderer Güte geschmähten) "Triumphlied" für Chor und Orchester anläßlich des Sieges über Frankreich 1871 einen Tribut an die Zeit zollte.

Betrachtet man die Tonsprache des Komponisten, muß man zugeben, daß Brahms' instrumentale Themen selten jenen großen hymnischen Zug Beethovens besitzen, selbst den Schumanns nicht, sie wirken bisweilen gequält und bemüht, sich freizusingen. Die eigentümliche, fahle Orchestrierung hat ebenso absichtsvoll weniger äußere Leuchtkraft. Brahms' umfangreiches lyrisches Schaffen ist bei aller psychologisch tiefen Ausdeutung der Texte bei Sängern und Hörern vielleicht wegen der überwiegend elegisch-verhaltenen Lieder einem breiteren Publikum (noch) unbekannt. Auch werden einige Kompositionen wie die "Tragische Ouvertüre" oder die d-moll-Violinsonate (op. 108) sogar als zu grüblerisch und zu wenig publikumswirksam von den Interpreten gemieden.

Aber es gilt dennoch: Das angebliche Unvermögen der Erfindung und Empfindung beruht auf einem äußerst strengen, zuchtvollen, kompositorischen Ethos, in dem eine bis an die musikalisch-ökonomischen Grenzen gelangte motivische Feinarbeit dominiert. Da ist es kaum verwunderlich, daß der Komponist durch dieses sein Naturell die Berührung mit außermusikalischen Elementen vermied - ja, vermeiden mußte -, wie sie sich in den Programmusiken der "Neudeutschen" um Liszt und seine Nachfolger bzw. im "Gesamtkunstwerk" Wagners manifestierten. Wie müßte man sich eine Oper von Brahms vorstellen? Auf welchem Sujet?

Als "absolutem Musiker" gelang es ihm aber, die musikalischen Sprachen und Formen des Barock, der Klassik und jungen Romantik in einer einzigartigen Form zu vereinen - was ihn trotzdem nicht davor bewahrte, von den "Fortschrittlichen" in der neudeutschen Gegenfraktion schnell zum Reaktionär abgestempelt zu werden. Brahms' Stil, seine musikalische Sprache war eine "spätromantische Verehrung zunftgerechter Altmeisterlichkeit", wie es Hans-Joachim Moser nennt, die sich aber später "mit eigenwüchsiger Modernität paarte". Er komponierte im Schatten "einer jahrhundertealten musikalischen Vergangenheit, erfüllt von Verantwortung gegen ihr Vermächtnis und bemüht, die Werte, die sie geschaffen, lebendig zu erhalten" (Werner Oehlmann).

Brahms' besondere Neigung zu mehrstimmigem Musikdenken, das sich an die alten Niederländer (Orlando di Lasso, Sweelinck etc.) anlehnt, führt bereits im "Deutschen Requiem" (1868) zu einem zukunftsweisenden polyphonen Stil, der bei Max Reger (der sich immer auf Bach und Brahms als musikalische Ahnherrn berufen hat) oder später bei Ernst Pepping und Johann Nepomuk David seine Vollendung fand. Die melodische Gleichberechtigung der Stimmen mußte daher zwangsläufig auch zu einer ganz eigenen Art der Harmonik führen, die die üblichen Kadenzierungen der Klassik durch eine breite Palette sogenannter Nebenstufen-Funktionen ersetzt.

So wird deutlich, daß Brahms' "Rückgewandtheit" von Anfang an nur eine scheinbare war, es war der Rückschritt als Fortschritt. Das bemerkte mancher seiner Zeitgenossen bereits vor 120 Jahren klar - neben dem damaligen Avantgardisten Max Reger auch Richard Strauss, der Brahms alles andere als wesensverwandt war, aber als junger Dirigent in Meiningen und Weimar sehr viel Brahms aufführte und seine frühe f-moll-Symphonie (op. 12 von 1884) vor ihrer Veröffentlichung diesem erst vorlegte. Doch etwa bis zum Ersten Weltkrieg hieß es meistens noch: "Hic Brahms, hic Wagner".

Die Meisterschaft in der Beherrschung kontrapunktischer Finessen und im Einsatz harmonischer Kühn- und Neuartigkeiten hinderte Brahms nicht, lebenslang dem Volkslied verbunden zu sein, das er zu seinen kompositorischen Idealen zählte und dem er in vielen eigenen Themenerfindungen bisweilen sehr nahekam. "Guten Abend, gut Nacht" klingt wie ein altdeutsches Volkslied, ist aber eine Brahms'sche Originalmelodie. Volksliedartige Bildungen, wie auch Volksliedzitate und -bearbeitungen umspannten sein musikalisches Leben: In seinem op.1, der C-Dur-Klaviersonate erklingt im langsamen Satz das Volkslied "Verstohlen geht der Mond auf", und 1894 stellte er als eines seiner letzten Werke eine Sammlung von deutschen Volksliedern zusammen, die er mit wunderbaren Klavierbegleitungen versah - ergreifend ist jene Aufnahme mit Elisabeth Schwarzkopf, Dietrich Fischer-Dieskau und Gerald Moore am Klavier.

In diesem Zusammenhang muß auch Brahms' lebenslange Begeisterung für die ungarische Musik gesehen werden. Anfang der fünfziger Jahre lernte Brahms den ungarischen Geiger Eduard Reményi kennen. Von diesem glänzenden Virtuosen ist der oft zitierte Spruch überliefert: "Werd ich spillen hajt Nocht Kraitzer-Sonate, daß sich Horre flieg'n." Brahms konzertierte als Zwanzigjähriger zusammen mit Remenyi einige Zeit in der norddeutschen Provinz unter anderem mit Beethoven-Sonaten sowie eigenen Kompositionen.

Die Begegnung mit ungarischer Musik in Remenyis selbstverfaßten Virtuosenstücken schlug sich 1869 nicht nur in der Komposition der "Ungarischen Tänze" nieder. Während diese Tänze nur Bearbeitungen ungarischer Volksmelodien waren - von ihm nur "mit Milch und Brot aufgezogen", wie Brahms selber launig äußerte -, erscheinen in sehr vielen seiner Werke "ungarisch gefärbte", doch selbst erfundene Themen. Das Finale des Violinkonzerts, jenes des Doppelkonzerts, jenes des B-Dur-Klavierkonzerts und (in schönster Stilisierung) der Schlußsatz des g-moll-Klavierquartetts op. 25 (um nur einige zu nennen) atmen künstlerische Pusztaluft, zeigen jedoch die unverkennbare Handschrift Brahms'.

Sicherlich mag auch die langjährige Freundschaft mit Johann Strauß nach seiner Übersiedlung nach Wien 1862 ihren tiefen Grund in Brahms' ungemein differenzierter Liebe zum Volkstümlichen finden. Strauß war für ihn, den schwerblütigen Meister der alten Polyphonie, "der musikalischste Schädel, der mir je vorgekommen ist". Dem Schaffen Antonín Dvoráks, dessen Mentor er zeitlebens war, stand er nicht zuletzt wegen dessen kraftvoller musikantischer Sprache anerkennend, sogar bewundernd gegenüber. Dvoráks op. 104 erschien ihm dabei als Gipfelwerk: "Warum in aller Welt habe ich nicht gewußt, daß man so ein Cellokonzert schreiben kann?"

So erscheint Brahms' Schaffen seltsam ambivalent - genauso wie die äußere Gestalt und der Charakter des Menschen Brahms. Als idealistischer, schöner, bartloser, hellblonder jugendlicher Mann erschien er etwa bis 1870. Danach wurde er Opfer der damaligen Mode gewaltiger "Landwehrbärte" und mutierte zu einem behaglich-bedrohlich grummelnden, mehr breiten als hohen, ständig von Tabakwolken umgebenen Zigarrenraucher, der misanthropisch sich einmal aus einer Gesellschaft mit folgenden Worten verabschiedet haben soll: "Sollte ich von den Herrschaften heut abend jemand vielleicht versehentlich nicht beleidigt haben, so bitte ich um Entschuldigung."

Aber wie auch im Falle Dvoráks stand er vielen jüngeren Kollegen neidlos fördernd zur Seite. Hans Renner resümiert: "In Brahms' Leben erscheint das Unvereinbare geheimnisvoll gebunden zum einheitlichen Bilde eines männlich klaren, kraftvollen Menschentums, erscheint in seiner Kunst das Zwiespältige gebändigt zum großartigen Sinnbild der überragenden Persönlichkeit. Beides ist nicht zu trennen."

Wilhelm Furtwängler schrieb zu dessen hundertstem Geburtstag vielleicht das Ergreifendste, was sich über Brahms sagen läßt: "Seine Kunst in ihrer Herbigkeit und Süße, in ihrer äußeren Verschlossenheit und inneren Gelöstheit, in ihrer Phantastik und ihrem Überschwang, wie in ihrer Selbstzucht und strengen Größe ist deutsch. Er war der bislang letzte Musiker, der in diesem Sinne die Weltgeltung der deutschen Musik noch einmal mit eindeutiger Klarheit allen vor Augen geführt hat."

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(Ut: Junge Freheit, 2 maaie 2008)

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